Das Bundesmodell auf dem Prüfstand – Urteilsbesprechung des BFH-Beschlusses vom 27. Mai 2024, II B 78/23 (AdV)

Der Bundesfinanzhof (BFH) hatte im Beschluss vom 27. Mai 2024, Az. II B 78/23 (AdV), über die „verfassungsrechtliche“ Zulässigkeit der Bewertungsvorschriften der §§ 218 ff. des Bewertungsgesetzes (BewG) im Rahmen der Grundsteuerreform zu entscheiden. Die zentrale Frage war, ob die Vorschriften des Bewertungsgesetzes in verfassungskonformer Auslegung im Einzelfall die Möglichkeit bieten, einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen, wenn der festgestellte Grundsteuerwert erheblich über dem tatsächlichen Wert des Grundstücks liegt.

Sachverhalt

Die Antragstellerin, Eigentümerin eines 351 qm großen Grundstücks, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist, legte Einspruch gegen den vom Finanzamt festgestellten Grundsteuerwert von 91.600 € ein. Der Bodenrichtwert betrug zum 01.01.2022 € 125,00 pro qm. Das Finanzamt ermittelte den Grundsteuerwert anhand der Summe des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks und des abgezinsten Bodenwerts. Die Antragstellerin beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Grundsteuerwertbescheids, da seit dem Baujahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden seien und der festgestellte Grundsteuerwert daher zu hoch sei.

Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz gab dem Antrag auf AdV statt, wogegen das Finanzamt Beschwerde einlegte. Der BFH wies die Beschwerde der Finanzverwaltung als unbegründet zurück.

Zulässigkeit des Antrages auf Aussetzung der Vollziehung

Der BFH stellte zunächst fest, dass der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO eröffnet ist, da es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit über eine Abgabenangelegenheit handelt. Der vorliegende Streit über die Feststellung des Grundsteuerwerts betrifft eine Abgabenangelegenheit im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Das Finanzgericht (FG) hatte zu Recht entschieden, dass die Einwendungen der Antragstellerin nicht isoliert gegen den Bodenrichtwert als solchen, sondern gegen den gesamten Grundsteuerwertbescheid gerichtet waren.

Begründetheit der beantragten Aussetzung der Vollziehung

Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind gegeben, wenn gewichtige Gründe gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheids sprechen.

Der BFH hatte einfachrechtliche Zweifel an der Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts. Diese Zweifel ergeben sich daraus, dass dem Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden muss, einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen, wenn der festgestellte Wert erheblich über dem normalen Maß liegt. Dies folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem daraus abgeleiteten Übermaßverbot.

Verfassungsmäßigkeit der Bewertungsvorschriften?

Die §§ 218 ff. BewG wurden im Rahmen der Grundsteuerreform neu gefasst, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Einheitsbewertung für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt hatte. Die neuen Regelungen enthalten aus Gründen der Automatisierung und Bewältigung der Neubewertung von über 36 Millionen wirtschaftlichen Einheiten eine Vielzahl von Typisierungen und Pauschalierungen. Der Gesetzgeber hat dabei einen großen Gestaltungsspielraum, solange die Bewertungsregelungen geeignet sind, den Belastungsgrund der Steuer realitäts- und gleichheitsgerecht abzubilden.

Eine verfassungsmäßige Bewertung ist jedoch nur gewährleistet, wenn das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als Bewertungsziel orientiert ist. Der Steuerpflichtige muss die Möglichkeit haben, einen niedrigen gemeinen Wert nachzuweisen, um einen Verstoß gegen das Übermaßverbot zu verhindern. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH ist dies regelmäßig dann der Fall, wenn der festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 16.11.2022 – II R 39/20, BFHE 279, 201, BStBl II 2024, 246, Rz 27 zu § 166 BewG).

Ergebnis und Bedeutung für die Praxis

Der BFH bestätigte, dass das FG die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids zu Recht ausgesetzt hat. Der Steuerpflichtige muss bei einer erheblichen Abweichung des festgestellten Wertes vom gemeinen Wert einen niedrigeren Wert nachweisen können. Andernfalls würde dies gegen das Übermaßverbot verstoßen und wäre verfassungswidrig.

Der Beschluss des BFH hat erhebliche Auswirkungen auf die Praxis der Grundsteuerbewertung. Er stärkt die Rechte der Steuerpflichtigen, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, bei erheblichen Abweichungen des festgestellten Grundsteuerwerts vom gemeinen Wert einen niedrigeren Wert nachzuweisen. Dies stellt sicher, dass die Grundsteuerbelastung realitätsgerecht und verhältnismäßig bleibt.

Der BFH hat damit klargestellt, dass die Typisierungen und Pauschalierungen des Bewertungsgesetzes zwar grundsätzlich zulässig sind, aber nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Steuerpflichtigen führen dürfen. Die Finanzbehörden müssen daher bei der Feststellung des Grundsteuerwerts sorgfältig prüfen, ob der festgestellte Wert im Einzelfall erheblich vom gemeinen Wert abweicht, und gegebenenfalls einen niedrigeren Wert anerkennen.